Da war doch was? Zigmal sind wir schon vorbei gerauscht an den großen Tafeln, die in den Spessart locken. Und dann hat's plötzlich Klick gemacht: Auf der Fahrt in den Urlaub - das Ziel hieß eigentlich Italien - zog es uns wie mit magischen Kräften in Rohrbrunn von der Autobahn. Wir wollten es endlich sehen das Wirtshaus im Spessart, dem Dichter Wilhelm Hauff auf der Spur und der Schauspielerin Lieselotte Pulver. Beim Blick in den DCC-Campingführer leuchteten uns vielversprechend fünf Sterne entgegen. Wenig später standen wir vor dem Tor vom Spessart-Camping Schönrain. Und ein paar Stunden später lag Rimini so weit entfernt wie selten zuvor.
"Da ist es Ihnen ergangen wie vielen anderen vor Ihnen", lachte Ruth Endres, als wir ihr von unserem spontanen Entschluss berichteten, die Autobahn Frankfurt-Würzburg zu verlassen. "Der Spessart hat einen ganz besonderen Zauber!" Der Name weckt Erinnerungen: an die Schulzeit und Wilhelm Hauffs Märchen, an seine Geschichte vom Wirtshaus im Spessart und an den gleichnamigen Film mit Lieselotte Pulver aus dem Jahr 1958. Zwei, drei Tage wollen die Nostalgie-Touristen bleiben, höchstens. "Und dann werden oft zwei, drei Wochen daraus" weiß die Chefin vom Spessart-Camping Schönrain.
Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hat sie selbst. Und Hermann der Herr des Hauses. Als der unsere auf die Deichsel des Caravans gepackten Drahtesel sah, stellte er fest: " Zum Radeln sind Sie hier genau richtig." Und packte ohne viel Federlesens einen ganzen Stapel einschlägiger Tourenvorschläge auf den Tisch. Ganz einfach zu fahren, weil ohne Steigungen, findet er die Tour am Main entlang, vom Campingplatz nach Gemünden von da nach Karlstadt, auf der andern Flussseite nach Lohr, noch mal über den Main und zurück zum Basislager. Ein richtig gut ausgebauter Fahrradweg, und doch nur einer von vielen. Ein bisschen anspruchsvoller, laut Hermann Endres gleichwohl selbst für Kinder zu bewältigen ist die Tour nach Rothenbuch; zurück geht's durchs Hafenlohrtal nach Marktheidenfeld und am Main entlang zum Ausgangsort. Natürlich hat unser Gastgeber eine spezielle Fahrradkarte für den Spessart zur Hand - und ein spezielles Angebot: "Wenn einem Radler unterwegs die Puste ausgeht, genügt ein Anruf. Dann holen wir ihn ab, mit unserem platzeigenen Minibus nebst Fahrradanhänger." Was das kostet? Nichts! "Derlei Sachen regeln wir hier auf Trinkgeldbasis …"
Gemünden, Karlstadt, Lohr - die Städtenamen hatten unsere Neugier geweckt. Und so machen wir uns am nächsten Morgen auf die Socken. Wenn auch nur im übertragenen Sinne: Zum Erkunden der Gegend nehmen wir erst mal das Auto, bleiben auf der Schönrainer Mainseite. Drüben steppt der Bär. Blechschlangen auf der Bundesstraße, dichter Zugverkehr auf der Eisenbahnstraße. Hier dagegen eine Landstraße minderer Ordnung, kaum mal ein Auto. Ungehindert schweift der Blick über das sanft geschwungene Flusstal, das sich langsam weitet. Bleibt am anderen Ufer hängen an plötzlich noch aufragenden Felsen, zu deren Füßen erste Weinberge auftauchen. Saugt sich buchstäblich fest an der Landschaft, deren Harmonie auch das aufgewühlteste Gemüt besänftigt. Bildstöcke am Wegrand künden von naiver Frömmigkeit, Verkaufsschilder - "Frühkartoffeln" oder "Der Biergarten ist geöffnet" - von mainfränkischem Erwerbssinn. Hier ist die Welt noch in Ordnung, da gibt es für den gestressten Großstädter keinen Zweifel.
Wir wechseln die Seiten. Über die Mainbrücke, nach Karstadt. Ein malerisches Panorama tut sich auf: Parallel zum Ufer die Stadtmauer, von Toren unterbrochen, überragt von Giebeln und Kirchtürmen. Einen Steinwurf weiter, am Oberen Tor vorbei, lenken wir unsere Schritte in die Altstadt. Liebevoll herausgeputzte Fachwerkfronten, daneben wuchtige Sandsteinfassaden, die "Hohe Kemenate" zum Beispiel mit der Stadtbibliothek, die Fürstbischöfliche Ratskellerei, in der heute die Polizei residiert, die Spitalkirche. Lebendige Vergangenheit.
Aber auch die Gegenwart hat in Karlstadt ihre Reize. Die Eisdiele offeriert "Drei große Kugeln für einen Euro", und das schon seit vier Jahren, wie der Besitzer auf erstauntes Nachfragen des Fremden stolz verkündet. Beim Chinesen nebenan kostet das Buffet acht Euro ("Essen Sie so viel Sie wollen!"). Echt fränkische Küche findet sich natürlich auch, in behäbigen Gasthöfen, Krustenbraten in Altbiersoße mit Krautsalat und Klößen (für 8,80 €) steht da auf der Karte, eine ofenfrische Haxe mit rohen Klößen (7,50 €) oder - Fisch, wen wundert's am Main - gebratener Zander auf Kürbisgemüse mit Petersilienkartoffeln (10,80 €). Guten Appetit! Und wenn Sie ein Viertel vom guten Frankenwein zu viel erwischt haben sollten: Anruf genügt. Der Shuttlebus vom Campingplatz steht nicht nur Radlern zur Verfügung, und sogar für die Tischreservierung sorgen die hilfsbereiten guten Geister von Schönrain. Speisekarten liegen in der Rezeption.
Vom Marktplatz führt eine Gasse hinunter zum Maintor, Baujahr 1567. Vom Hügel am gegenüberliegenden Ufer grüßt die Ruine der Karlsburg, anderthalb Kilometer Fußweg entfernt. Zwei Musiker versuchen folkloristisch an ein paar Münzen zu kommen, neben ihnen verraten die Hochwassermarken am Torbogen, dass die Fluten 1876 hier mehr als mannshoch standen. Die Flußlände, heute ein verträumter Park, war einstmals ein wichtiger Warenumschlagsplatz. Nur schwer vorstellbar, dass hier unzählige Schiffe entladen wurden, dass der Main über Jahrhunderte hinweg den bedeutendsten Transportweg darstellte für Güter aller Art.
Wir wären gerne noch ein wenig geblieben. Aber Ruth Endres hatte uns in der Rezeption ein ganzes Bündel von Stadtplänen und Prospekten in die Hand gedrückt: " Da müsst ihr unbedingt hin!" Also setzen wir unsere Entdeckungsreise fort, heute - und an den folgenden Tagen. Gemünden am Main zum Beispiel hat uns sehr beeindruckt. Überragt von einer Ruine, der Scherenburg, offeriert das Städtchen viel mittelalterliches Flair. Der Marktplatz mit seinem Kopfsteinpflaster gleicht an sonnigen Tagen einer einzigen großen Gartenwirtschaft, mit einem fulminanten Angebot, das von der Konditorei über die Eisdiele bis zur Ratsschenke reicht. Wo's, selbstredend, einen echten fränkischen Schweinebraten gibt.
Eine Nummer größer, mit breiterem kulturellem Angebot, präsentiert sich Lohr. In der Touristeninformation bekommt es der Fremde schriftlich: einen Plan für den (freilich auch überall ausgeschilderten) Altstadtrundgang. Vom Schloss, ehedem Residenz der Grafen von Rieneck, führt er an altehrwürdigen Häusern vorbei und über stille Plätze, bis hinunter zur Mainlände, wo Muschelgasse und Fischergasse davon künden, welch wichtige Rolle der Fluss auch hier schon immer gespielt hat. Radler scheinen in Lohr gern gesehen zu sein, mitten im Zentrum finden sich an einem Pfahl glatt ein Dutzend Hinweise auf diverse einschlägige Rundwege. Und die Autofahrer? Für die gibt's an jeder Ecke einen Parkscheinautomaten.
Sie hätten es lieber eine Nummer bescheidener? Dann sollten Sie am Main entlang Richtung Marktheidenfeld fahren. Dort verbirgt sich hinter einem hohen Damm, der seit einigen Jahren nicht nur das Hochwasser abwehrt, sondern auch eine Straße trägt, Bayerns kleinste Stadt. "Rothenfels" heißt sie und offenbart sich jedem, der die Asphaltpiste verlässt, als echtes Juwel. Schmale Treppen, die sich den Berg hinauf ziehen zur - diesmal nicht ruinierten, sondern vollständig erhaltenen - Burg. Heiligenfiguren vor üppig geschnitztem Fachwerk. Hoftore, die offenbar schon lange nicht mehr geöffnet wurden. Schmiedeeiserne Wirtshausschilder vor Gasthöfen, deren Speisekarten sich mal wieder lesen wie ein fränkisches Kochbuch.
Am Abend schildern wir Ruth Endres unsere Erlebnisse; wir müssen einfach loswerden, wie beeindruckt wir sind. Vor allem von den Zeugen der Vergangenheit. "Waren Sie schon auf der Burgruine Schönrain?" will darauf ihr Mann wissen. Nein, waren wir nicht. Hermann Endres greift ins Regal, drückt uns ein paar DINA4-Seiten in die Hand: "Hier hat der Gymnasialprofessor Betz zusammengetragen, was sich seit dem Jahre 1079 in den geschichtsträchtigen Mauern der Ruine alles abgespielt hat" Spannend wie ein Krimi liest sich das. Am nächsten Morgen geht's erst mal per Pedes los. Eine halbe Stunde dauert der Aufstieg zur Ruine, ein paar Tage brauchen wir für die Folgen.
Denn Schönrain, Namensgeber fürs Spessart-Camping, wurde unversehens zum Auftakt einer ausgedehnten Burgen-Tour. Hermann Endres hatte die Lunte gelegt, mit einer Beschreibung der Homburg. Noch nie davon gehört? Wir auch nicht. Dabei ist es die zweitgrößte Burgruine Deutschlands. Logisch, dass wir da hin mussten. Vom Spessart-Camping Schönrain sind es gerade mal 15 Autominuten bis Gössenheim. Und dort gilt es auf die Schilder zu achten, die den Weg zum "Schoppen-Franz" weisen. Schon von weitem zu erkennen sind die trutzigen Mauern hoch über den Rebzeilen. Der Schoppen-Franz entpuppt sich als zünftige Weinschenke, mit toller Aussicht von der großen Terrasse. Leider bleibt die gastliche Stätte Montag und Dienstag geschlossen. Nix wird's deshalb mit dem halbtrockenen Karlstädter Bacchus für 2,80 € das Viertel, den wir uns da gerne einverleibt hätten.
Dafür ist der Parkplatz leer. Ganz alleine uns gehört die weitläufige Anlage an diesem Morgen. Infotafeln verraten, dass die Homburg im Jahre 1028 von den Hohenbergern zum noch heute erkennbaren Umfang ausgebaut wurde. Den Bauernkrieg hat sie schadlos überstanden. Aber 1680 begann, nach einem Brand, der langsame Verfall. 1960 war die Ruine so desaströs, dass der Landrat sie wegen Gefahr für Leib und Leben der Besucher sperren lassen wollte.
Heute ist sie Mittelpunkt eines Naturschutzgebietes, in dem sich seltene Orchideen ebenso wohl fühlen wie rund 50 Schmetterlingsarten, vom Blutstorchschnabel bis zum Segelfalter. Im Herbst leuchten tiefrot die Blätter des französischen Ahorns, den es hier zu Lande ansonsten nur noch an der Fränkischen Saale gibt. Und der Trockenrasen, ebenfalls typisch für die Homburg, erfreut den Naturfreund mit dem bitteren Kreuzblümchen oder der ästigen Graslilie, dem großen Windröschen, der Erdsegge, dem blauroten Steinsamen.
All das haben wir also entdeckt, dank Hermann Endres und seiner Frau Ruth. Und noch eine ganze Menge mehr. Fünf DINA4-Seiten lang ist ihre Aufstellung empfehlenswerter Ausflugsziele, die meisten finden sich in einem Umkreis von gerade mal 50 Kilometern. Würzburg und Steinau an der Straße gehören ebenso dazu wie Aschaffenburg und Ochsenfurt. Oder das Wasserschloss Mespelbrunn, das eine wichtige Rolle spielte im schon erwähnten Film mit Lieselotte Pulver, den der Besucher übrigens im Souvenirshop als Videokassette für 12,55 € mit nach Hause nehmen kann. Nur die Fahndung nach dem Wirtshaus im Spessart, das dem Epos seinen Namen gab, blieb mehr oder minder erfolglos. Beim Autobahnbau musste es seinerzeit abgerissen werden. Besonders hartnäckige Frager schickt Hermann Endres nach Hessenthal, ins Gasthaus zur Post. "Das sieht noch am ehesten so aus wie das verschwundene Original", argumentiert er augenzwinkernd ...